63
Am Valentinstag landete ein großer, dicker Umschlag auf dem Flur in Lisas Haus. Eine Karte? Von wem? Ihr Blut rauschte vor Aufregung, sie riss den Umschlag auf, dann blieb sie reglos stehen...
Oh.
Es war das vorläufige Scheidungsurteil.
Sie wollte lachen, schaffte es aber nicht ganz. Die Urkunde war so schnell vom Gericht an ihren Anwalt weitergeleitet worden, dass es ihr den Atem verschlug. Alles in allem hatte es zwei Monate gedauert, und sie hatte sich vorgestellt, dass es mindestens drei dauern würde.
Mit panikhafter Klarheit erkannte sie, dass sie und Oliver das letzte Stück Wegs vor sich hatten. Alle Hindernisse waren aus dem Weg geräumt, das Ende ihrer Ehe kam mit Riesenschritten auf sie zu.
Nur noch sechs kurze Wochen, bevor das endgültige Scheidungsurteil ausgesprochen werden würde.
Dann würde sie sich besser fühlen. Wenn es erst endgültig vorbei war.
An dem Abend ging sie mit Dylan aus. In den letzten zwei Monaten hatte er sie jedesmal, wenn er ins Büro kam, um sich mit Ashling zu treffen, gefragt, und sie hoffte, es würde sie aufheitern. Besonders, da sie keine Silbe von Oliver vernommen hatte.
Dylan holte sie nach der Arbeit ab und fuhr mit ihr in einen Pub in den Dublin Mountains, von wo aus sie auf die Lichter der Stadt unter sich blickten, die wie Juwelen funkelten. Sie gab ihm die volle Punktzahl für die Ortswahl. Für seine Haare bekam er sieben von zehn Punkten, und acht von zehn für sein attraktives Aussehen. Und technisch gesehen war er charmant und voller aufmerksamer Komplimente, so dass er dafür auch sieben oder acht Punkte bekam. Aber sie wurde nicht warm mit ihm. Sie fand ihn glatt und hart und entdeckte unter seinem galanten Konversationstalent einen herben Zynismus, der ihren weit in den Schatten stellte Aber vielleicht lag das Problem auch an ihr. Sie konnte das Verlustgefühl, das sie den ganzen Tag bedrückt hatte, nicht abschütteln.
Sie trank eine Menge, wurde aber nicht betrunken, sondern zunehmend deprimierter. Der Abend, der sie aus ihrer Niedergeschlagenheit herausholen sollte, hatte die gegenteilige Wirkung. Und als Dylan sehr klare Andeutungen machte, dass er mit ihr schlafen wollte, deprimierte sie das nur noch mehr.
Sie murmelte etwas wie: »Ich bin nicht so eine.«
»Ach, wirklich?« Dylan verzog die Mundwinkel auf eine Weise, die Bedauern und Verachtung ausdrückte, und plötzlich wollte sie einfach allein sein.
Schweigend fuhr Dylan sie wieder in die Stadt, mit quietschenden Reifen raste er zu schnell über die engen ländlichen Straßen. Vor ihrem Haus dankte sie ihm, wie es sich gehörte, konnte aber nicht schnell genug aus seinem Wagen steigen. Als sie in der Sicherheit ihrer Küche war, genehmigte sie sich ein Walnusseis (sie machte die W-Diät und hatte ein willkommene Lücke entdeckt) und grübelte. Was sollte aus der Welt noch werden, wenn selbst ein One-Night-Stand sie nicht mehr reizte?
Clodagh saß auf einem Stuhl, hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte aufgeregt mit dem Fuß. Dylan war mit den Kindern unterwegs und würde jeden Moment zurücksein, und obwohl er es noch nicht wusste, würden sie miteinander reden.
Jedesmal, wenn sie sich begegneten, waren sie höflich miteinander, aber die Situation war unangenehm. Er war verbittert, und sie in einer Verteidigungshaltung, doch das würde sich jetzt ändern.
Wie hatte sie je denken können, dass Marcus ein angemessener Partner war? Dylan war hinreißend: geduldig, freundlich, großzügig, treusorgend, arbeitsam, und viel attraktiver. Sie wollte ihr altes Leben zurückhaben. Doch sie musste mit Dylans Widerstand und Bitterkeit rechnen und freute sich nicht, ihn demütig bitten zu müssen, damit er zu ihr zurückkam.
Laute Kinderstimmen an der Tür zeigten die Rückkehr an. Sie stand rasch auf, öffnete die Tür und lächelte Dylan freundlich an, was er mit frostiger Miene erwiderte.
»Kann ich einen Moment mit dir sprechen?« Sie zwang sich, entgegenkommend zu klingen.
Als er mit einem kühlen Schulterzucken »meinetwegen« sagte, legte sie für die Kinder ein Video ein, schloss die Tür und ging in die Küche, wo Dylan wartete.
Sie schluckte hart. »Dylan, in den letzten Monaten... Es war falsch von mir, es tut mir sehr Leid. Ich liebe dich immer noch, und ich möchte«, sagte sie mit erstickter Stimme, »ich möchte, dass du nach Hause kommst.«
Sie beobachtete sein Gesicht und wartete darauf, dass das goldene Licht des Glücks aufgehen und die kalte Härte wegnehmen würde, die dort eingezogen war, seit all dies geschehen war. Er sah sie ungläubig an.
»Ich weiß, dass es eine Weile dauern wird, bis sich alles wieder normalisiert hat und du mir wieder vertrauen kannst, aber wir können zu einer Eheberatung gehen und so«, versprach sie. »Ich war nicht bei Sinnen, als ich dir all diese Dinge angetan habe, aber wir können alles wieder gutmachen. - Oder?«, fragte sie, als er nichts sagte.
Schließlich sprach er und sagte nur ein einziges Wort: »Nein.«
»Wie ... nein?«
»Nein, ich komme nicht zurück.«
Damit hatte sie nicht gerechnet. Das kam in keinem ihrer Szenarien vor. »Aber warum nicht?« Sie konnte ihm nicht richtig glauben.
»Ich möchte es einfach nicht.«
»Aber du warst völlig niedergeschmettert von dem, was ich ehm - getan habe.«
»Ja, und ich dachte, es würde mich umbringen«, stimmte er ihr nachdenklich zu. »Aber anscheinend habe ich es überwunden, denn wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann möchte ich nicht mehr mit dir verheiratet sein.«
Sie fing an zu zittern. Das konnte nicht wahr sein. »Was ist mit den Kindern?«
Da hatte sie ihn. »Ich liebe meine Kinder.«
Gut.
»Aber ich komme nicht ihretwegen zu dir zurück. Es geht nicht.«
Die Dinge entglitten ihr. Alle Macht, die sie zu besitzen geglaubt hatte, entpuppte sich als hohl. Und dann kam ihr ein unwahrscheinlicher, fast lachhafter Gedanke. »Hast du... hast du ... eine andere?«
Er lachte unfreundlich. Das habe ich gemacht, dachte sie plötzlich beschämt. Ich habe ihn so gemacht.
»Ich habe viele andere kennen gelernt«, sagte er.
»Meinst du ... willst du damit sagen ..., du hast mit anderen Frauen geschlafen?«
»Viel geschlafen wohl nicht.«
Es war wie ein Schlag in die Magengrube, sie fühlte sich betrogen, getäuscht, hintergangen. Und sein kühler, kränkender Ton ließ einen schrecklichen Verdacht in ihr aufkommen. »Kenne ich sie?«
Sein Lächeln war grausam. »Ja.«
Erneut ein Schlag in die Magengrube. »Wer?«
»Solche Fragen stellt man einem Gentleman nicht«, höhnte er.
»Du hast gesagt, du würdest auf mich warten«, sagte sie leise.
»Wirklich? Dann habe ich gelogen.«
Erst als Lisa von der Konkurrenz von Randolph Media einen Job angeboten bekam, fing sie an, über ihre Zukunft nachzudenken. In den zehn Monaten bei Colleen hatte sie die Zeitschrift dorthin gebracht, wo sie sie hinsichtlich der Auflagenzahl und des Anzeigenvolumens haben wollte. Es war Zeit zu gehen.
Ihr war klar, dass sie wieder nach London wollte - dort gehörte sie hin, und sie wollte in der Nähe ihrer Eltern sein. Aber als sie die verschiedenen Möglichkeiten erwog, war sie sich nicht sicher, ob sie noch einmal Chefredakteurin einer monatlich erscheinenden Hochglanz-Zeitschrift sein wollte. An einem schlüpfrigen Pfahl nach oben zu klettern, andere zu demütigen und sich mit fremden Lorbeeren zu schmücken, hatte nicht mehr den Reiz wie einst. Auch der Gedanke an die rücksichtslose Konkurrenz zwischen den Zeitschriften zog sie nicht mehr an, und die Vorstellung von dem mörderischen Gerangel um Positionen ließ sie kalt. Einst hatte diese Art des Wettbewerbs sie erregt und zu Höchstleistung angesport.
Doch das war vorbei, und bei der Erkenntnis verspürte sie Panik - war sie ein Schwächling geworden, saft- und kraftlos, eine, die unter »ferner liefen« rangierte? Aber sie fühlte sich nicht schwach. Bloß weil es ein paar Sachen gab, die sie nicht mehr tun wollte, hieß das nicht, dass sie schwach war - sie hatte sich einfach verändert.
Natürlich nicht grundlegend, das gab sie trocken zu: Sie liebte die Oberflächlichkeit von Zeitschriften nach wie vor. Die Kleider, das Make-up, die Spalte mit Beziehungsfragen. Ihr nächster Karriereschritt würde darin bestehen, sich nach einer Position im Unternehmensberatungs-Bereich umzusehen.
Irgendwas war im Gange, stellte Ashling fest. Anfangs hatte sie nicht weiter Notiz davon genommen und es für einen einmaligen Vorfall gehalten. Auf den ein weiterer einmaliger Vorfall folgte. Und dann noch einer. Aber ab wann wird aus einer Reihe von einmaligen Vorfällen ein Muster?
Sie hatte davor zurückgescheut, diesen Vorfällen zu viel Bedeutung beizumessen, weil sie so dringend wollte, dass sie eine Bedeutung hatten.
Es hatte mit Jack Devine zu tun. Er hatte sie zu einem Drink eingeladen, um mit ihr das Ende ihrer Prozac-Phase zu feiern. Dann, eine Woche darauf, als feststand, dass sie nicht wieder ausgeflippt war, hatte er sie wieder zu einem Drink eingeladen, um auch das zu feiern. Dann hatte er sie zu einem Drink und einer Pizza eingeladen, um zu feiern, dass sie wieder mit ihrem Salsa-Kurs angefangen hatte. Dann hatte er sie zu einem richtigen Essen bei Cookes eingeladen, um Boos Einzug in seine erste Wohnung zu feiern. Doch als Ashling vorschlug, dass es nur angemessen sei, Boo auch einzuladen, war Jack nicht so begeistert. »Ich gehe morgen Abend mit ihm und ein paar Typen vom Sender auf ein Bier aus«, fügte er hinzu.
Und jetzt kam er an ihren Schreibtisch und schlug schon wieder vor, dass sie ausgingen.
»Was feiern wir diesmal?«, fragte sie misstrauisch.
Er überlegte. »Ehm, dass es Donnerstag ist?«, schlug er dann fröhlich vor.
»In Ordnung«, sagte sie. Denn es war Donnerstag. Aber es verwirrte sie. Warum war er so freundlich zu ihr? War er immer noch um sie besorgt, nach den dramatischen Ereignissen? Aber all das lag doch in der Vergangenheit. Und jeder andere Grund für seine Aufmerksamkeit erschien ihr vermessen.
Lisa war es, die sie aufklärte.
»Ihr habt euch also endlich gefunden, Jack und du?«, fragte sie so unbeteiligt sie konnte. Dass sie nicht die Erwählte war, pikste sie noch immer; so war sie nun mal und so würde sie immer sein.
»Wie bitte?«
»Du und Jack. Du magst ihn doch, oder?«, neckte Lisa sie. »Im Sinne von mögen.«
Das heiße Rot, das sich über Ashlings Gesicht ergoss, war ihre Antwort auf diese Frage.
»Und er mag dich«, erklärte Lisa.
»Das stimmt nicht.«
»Das stimmt wohl.«
»Das stimmt nicht.«
»Ach, sei doch nicht so naiv, Ashling«, fuhr Lisa sie an. Ashling sah sie entgeistert an. Dann, nach längerem Schweigen, sagte sie schwach: »Ich werd‘s versuchen.«
An dem Abend im Restaurant beschloss Ashling, den Stier bei den Hörnern zu packen. Eigentlich wollte sie das nicht, aber sie vermutete, dass sie es tun müsste. Um sich Mut zu machen, zündete sie sich eine Zigarette an, und Jack sah ihr dabei mit einem Blick zu, als täte sie etwas Bemerkenswertes.
Hör auf mich so anzusehen, ich kann nicht richtig denken.
»Jack, darf ich Sie etwas fragen? Wir sind zusammen in einem Restaurant. Ist das...« Sie erstarrte. Vielleicht sollte sie es nicht sagen. Wenn sie sich nun irrte?
»Ist es...?«, ermunterte er sie mit einem Ausdruck, der seine Bereitschaft zu antworten signalisierte.
Sie atmete den Rauch aus. Mist, warum eigentlich nicht? »Ist das ein Rendezvous?«
Er betrachtete sie eindringlich. »Möchten Sie, dass es eins ist?«
Sie tat so, als dächte sie darüber nach. »Ja.«
»Dann ist es eins.«
Sie ließen ihre Blicke durch das Restaurant schweifen. »Möchten Sie wieder ein Rendezvous mit mir haben?«, fragte Jack übertrieben nonchalant.
»Ja.«
»Samstagabend?«
Himmel. Die erste Verabredung an einem Wochenende. Sie begab sich auf neues Terrain. »Ja.«
Wieder wanderten ihrer beider Blicke im Restaurant umher, und beide vermieden es tunlichst, sich gegenseitig zu betrachten.
Ashling hörte sich eine weitere Frage stellen. »Jack, kann ich Sie fragen, warum Sie ein ... Sie wissen schon ... mit mir haben wollen?«
Sie hob ihre Augen zu ihm, und in dem Moment trafen sich ihre Blicke mit aller Macht. Es verschlug ihr den Atem, und Erregung breitete sich in ihr aus, wie kleine Fische, die an ihrer Haut knibbelten. »Weil«, sagte Jack sanft, »weil Sie meine Pläne, die Weltherrschaft an mich zu reißen, durchkreuzen.«
Was sollte das nun wieder heißen?
»Woran ich auch denke, ich denke an Sie«, sagte er. Er klang ganz sachlich. »Es zieht sich durch alles hindurch.«
Ihr schwirrte der Kopf; sie konnte nicht sprechen. Konnte nicht das kleinste passende Wort finden. Sie hatte vermutet, dass er sie mochte, aber jetzt, da er es gesagt hatte ...
»Sagen Sie doch etwas«, drängte er sie.
Sie murmelte: »Wie lange geht das schon so?« Ich klinge wie Dr. McDevitt.
»Seit Ewigkeiten«, seufzte er. »Seit der Startparty.«
»So lange?«
»Ja.« Er seufzte wieder.
»Aber das ist Monate her!«
»Sechs, um genau zu sein.«
»Die ganze Zeit...« Sie dachte an das letzte halbe Jahr, in dem ihr Leben in ganz anderen Bahnen verlaufen war.
Meinte er es ernst? Also, gesagt hatte er es, aber sie fürchtete sich ein bisschen davor, ihm zu glauben. Im Moment noch.
»Kein Wunder, dass Sie so freundlich zu mir waren«, brachte sie hervor.
»Ich wäre sowieso freundlich zu Ihnen gewesen.«
»Wirklich?«
»Na klar.« Er lächelte verschämt. »Na ja, vielleicht. Wahrscheinlich ... Und Sie?«
»Ich?«
»Wie ist es bei Ihnen?«
Immer noch wollten die Worte nicht richtig kommen, und das Beste, was sie zustande brachte, war: »Ich würde gern am Samstagabend ein Rendezvous mit Ihnen haben.«
»Ist gut«, sagte er und verstand die versteckte Botschaft. »Vielleicht haben Sie Lust, zu mir zu kommen? Sie haben gesagt, Sie würden mir ein paar Tanzschritte beibringen.«
Sie hatte es nicht versprochen, aber sie sagte nichts.
»Und ich glaube, Sie würden Sushi mögen, wenn Sie mir nur vertrauen«, fügte er verschmitzt hinzu.
»Ich vertraue Ihnen.«
Als Lisa am folgenden Tag ihre Kündigung einreichte und ihre Absicht verkündete, nach London zurückzugehen, reagierte Jack sehr freundlich und sagte: »Wir hatten Glück, dass Sie so lange bei uns geblieben sind.« Aber sie war klug genug, zu bemerken, dass ihr nicht seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit galt.
»Und Sie könnten Trix meine Stelle geben«, schlug sie in aller Unschuld vor.
»Darüber werden wir nach -! Ahahaha, sehr gut!« Er lachte nervös.